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Titel
Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit


Herausgeber
Füssel, Marian; Kuhle, Antje; Stolz, Michael
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sophie Quander, Institut für Germanistik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Wenn der französische König einem Schneider anbietet, als königlicher Keramikmeister seinen Toilettenstuhl herumzutragen; wenn eine thüringische Fürstin katholische Priester beschäftigt, um für ihre private Puppensammlung Wachsköpfe zu formen; wenn ein Herrscher sich an seinen Leibarzt wendet, damit er ihm die Sterne deutet – dann zeigen sich hier, so der Sammelband „Höfe und Experten. Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit“, Erscheinungsformen vormoderner Expertenkulturen. Zugegeben, die beschriebenen Phänomene stellen Extrembeispiele höfischer Wissenswelten dar; doch sensibilisieren sie nichtsdestoweniger für Bandbreite und Zusammenspiel divergenter Wissensbereiche und dazugehöriger Expertentypen. Seine Ergebnisse verdankt der Band dem Symposion „Experten des Hofes – Hofkultur als Expertenkultur?“, das das Göttinger DFG-Graduiertenkolleg 1507 „Expertenkulturen des 12. bis 18. Jahrhunderts“ vom 11. – 13. Februar 2014 veranstaltet hat.

In einer knappen Einleitung präsentiert der Herausgeber Marian Füssel (Frühneuzeitliche Geschichte) das zugrundeliegende Expertenkonzept, das sich auf die Definitionsangebote von Frank Rexroth und die Arbeitsbegriffe des Graduiertenkollegs stützt. Rexroth fasst den Experten als „einen sozialen Rollentypus, der sich durch die Verheißung passgenauen Wissens in einer bestimmten Kommunikationssituation auszeichnet.“1 Sein gesellschaftlich relevantes, institutionell gefestigtes Sonderwissen stellt er jeweils situativ zur Verfügung. Der Experte existiert demnach nicht per se, sondern konstituiert sich durch Fremd- und Selbstzuschreibungen in kommunikativen Aushandlungsprozessen.2 Rexroths Expertenbegriff – so Füssel – soll helfen, „den Blick auf bestimmte Situationen, Relationen und Dynamiken von Wissen bei Hof zu lenken und damit die spezifische soziale Rolle des Experten zu historisieren.“ (S. 10) Der Band bietet derart Einblicke in Expertenkulturen am europäischen Fürsten-, Königs- und Papsthof des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.

Grundlegende Thesen zu Formen und Funktionen höfischer Wissenskultur entwickelt Timo Reuvekamp-Felber (Germanistische Mediävistik) am Beispiel des hochmittelalterlichen Fürstenhofs. Gegen Johannes Fried, der den mittelalterlichen Königs- und Fürstenhof als Keimzelle einer sich langsam ausdifferenzierenden Wissensgesellschaft diagnostiziert 3, betont Reuvekamp-Felber Pragmatik und Flexibilität des hochhöfischen Wissensbedarfs: Der Hof produziert nicht etwa, sondern konsumiert situationsspezifisch das Sonderwissen von temporär beschäftigten Experten (S. 23). Ob und inwiefern sich Ärzte oder Astrologen darüber hinaus dauerhaft am Fürstenhof aufhielten, lässt sich aufgrund der schlechten Quellenlage nicht mit Sicherheit ableiten. Die deutschen Höfe des Hochmittelalters sind demnach nicht Knoten- und Ausgangspunkt einer vernetzten Wissenskultur, sondern „partizipierende Endverbraucher.“ (S. 27) Drei Wissensbereiche gewinnen im Laufe des Mittelalters dabei zunehmend an Bedeutung: Das verwaltungs- und herrschaftsgebundene, das naturkundlich-mathematische und das praktisch-handwerkliche Wissen, zu dem auch die Jagd zählt (S. 33ff.).

Dass sich der Bedarf an situationsgebundener Expertise im Laufe des Mittelalters ausdifferenziert, zeigen kontrastiv hierzu die Beobachtungen von Annette C. Cremer (Frühneuzeitliche Geschichte). Indem sie das in der Hausvaterliteratur gezeichnete höfische Ideal mit der Realität des Arnstädter Musenhofes im 18. Jahrhundert abgleicht, kann sie vier höfische Kompetenzfelder isolieren: Lebenssicherung und Grundversorgung, Personal- und Familienführung, kulturelle Hofhaltung sowie Staatsführung und Verwaltung (S. 143ff.). Diesen ordnet sie wiederum fünf hierarchisch gegliederte Expertengruppen zu: Während das ungelernte Personal (Erntehelfer, Waschmägde etc.) und die Hofbediensteten (Kammerdiener, Kammerzofe etc.) in der Regel aus dem lokalen Umfeld an den Hof kommen, bringen regionale Spezialisten (Ärzte, Schreiber etc.), translokale Experten (Künstler, Bildungsakademiker etc.) und externe Experten (spezialisierte Ärzte, Kunsthändler etc.) ihre Expertise von außerhalb ein (S. 159). Cremer plädiert dafür, auch die systemrelevanten ersten beiden Gruppen als Experten zu klassifizieren (S. 163). Idealiter stehen Hausvater und Hausmutter dem Haushalt hierbei als „Meta-Experten“ (S. 141) aller Kompetenzfelder vor, da sie die Personalverantwortung tragen und die Arbeitsteilung überwachen.

Kontrastiv zu den systematischen Überlegungen von Reuvekamp-Felber und Cremer widmen sich die übrigen sechs thematischen Beiträge konkreten Expertentypen. So diskutieren Gerrit Deutschländer (Mittelalterliche Geschichte) und Benjamin Müsegades (Mittelalterliche Geschichte) die Rolle des Prinzenerziehers im ausgehenden Mittelalter. In dem Maße, in dem die Schriftlichkeit im Bereich des Verwaltungs- und Herrschaftswissens zunimmt (Reuvekamp-Felber), gewinnt auch die Ausbildung des künftigen Herrschaftsträgers an Relevanz. Beide Beiträger kommen zu dem Ergebnis, dass primär junge Gelehrte zu Beginn ihrer Karriere als Prinzenerzieher an den Fürstenhof gerufen wurden. Neben ihrer persönlichen Eignung entscheiden vor allem Patronage und intellektuelles Netzwerk, ob sie für das Amt in Frage kommen. Während Müsegades die Fürstenerzieher als Experten begreift (S. 69), relativiert Deutschländer: „Gelehrte Prinzenerzieher waren zwar Experten am Hof, doch Experten des Hofes, das heißt Experten für die ganz eigenen Fragen der höfischen Lebenswelt, waren sie in der Regel nicht.“ (S. 51). Das Wissen, das die Prinzenerzieher ihren Schülern vermitteln, ist bedürfnisorientiert und pragmatisch reduziert - schließlich dient der Erzieher dem künftigen Herrscher und nicht umgekehrt. Die daraus resultierende „asymmetrische[] Verteilung von Wissen und Macht“ (S. 15f.) provoziert wiederholt Konflikte zwischen adligem Schüler und Lehrmeister. Vergleichbare Spannungen erleben auch andere Expertentypen:

Am Beispiel des Architekten Balthasar Neumann und seines Dienstherrn Johann Philipp Franz von Schönborn führt Anna-Victoria Bognár (Architekturgeschichte) vor, wie sich Dienstherr und ausführender Architekt wegen der Frage überwerfen können, wer das in Auftrag gegebene Bauprojekt künstlerisch zu verantworten habe (S. 214). Entwickeln Herrschaftsträger selbst Ambitionen in bestimmten Wissensbereichen, muss dies jedoch nicht zwangsläufig im Konflikt enden; das Sonderwissen kann im Gegenteil auch Herrscher und Experten näher zueinander bringen und die Position des Experten als Wissensautorität am Hof stabilisieren.

So konnte der persönliche Hofarzt, wie Sabine Herrmann (Medizingeschichte) herausarbeitet, auch als Astrologe, Prinzenerzieher und politischer Ratgeber auftreten (S. 127). Die unterschiedlichen Wissensbereiche und dazugehörigen sozialen Rollen lassen sich demnach nicht eindeutig voneinander trennen, sondern finden kontextabhängig und personenspezifisch Einsatz. Diesen Befund bestätigt in gewisser Weise auch Jörg Bölling (Katholische Theologie) mit Blick auf den Zeremoniar am Papsthof, der zwar als Experte das weltliche Hofzeremoniell organisierte, in der Kurie jedoch performativ als Diener auftrat (S. 71).

Wie die Untertitel der Beiträge von Deutschländer („Anforderungen, Aufgaben und Werdegänge“), Bölling („Kompetenzen – Karrieremuster – Konzepte“) und Herrmann („Karrierewege, Anforderungen und Aufgaben“) implizieren, fokussieren die Fallstudien vor allem Karriereweg, Aufgabenbereich und soziale Stellung der unterschiedlichen Expertentypen am Hof. Im diachronen Vergleich zeichnet sich dabei eine Ausdifferenzierung und Pragmatisierung der unterschiedlichen Wissensbereiche sowie eine Professionalisierung der Expertentypen ab. Dieser Umstand erlaubt jedoch nicht, unmittelbare historische Kontinuitätslinien zur modernen Leistungs- und Funktionsgesellschaft zu ziehen: So diskutiert Leonard Horowski (Geschichte) am Beispiel des surintendance des bâtiments, des introducteur des ambassadeurs und des Hofgenealogen, wie Hofämter am Königshof in Versailles primär nach sozialem Stand und Dynastizität besetzt wurden (S. 178).

Der Hof als „Macht- und Wissensraum“ (S. 8) gehört mittlerweile zum festen Repertoire nicht nur mediävistischer Forschung – die Publikationen der letzten Jahre verzeichnen ein reges Interesse gerade auch in den außereuropäischen Disziplinen.4 Gelungen verdichtet der interdisziplinäre Sammelband die bisherige Diskussion durch den methodischen Zuschnitt: Rexroths Expertenbegriff erlaubt, den Hofgelehrten nicht als statische Größe, sondern als relationale und situative soziale Rolle zu fassen, die durch Interaktion und Kommunikation am Hof entsteht. Die chronologische Abfolge der Beiträge, die den Zeitraum vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert abdecken, macht dabei wissensgeschichtliche Prozesse der Differenzierung und Professionalisierung durchsichtig, ohne deshalb ahistorisch an einer Universalgeschichte des Expertentums mitzuschreiben. Ob und inwiefern Wissen nun aber Machtmechanismen konstituiert und dynamisiert, wie es der Untertitel des Bandes „Relationen von Macht und Wissen in Mittelalter und Früher Neuzeit“ andeutet, thematisieren die Beiträge leider nur vereinzelt. Die Erkenntnisse, dass Höfe sich über Experten in ein transregionales Netzwerk einbinden und Macht über Repräsentation ausstellen (Cremer) oder Experten dank ihrer intimen Beziehung auf Herrschaftsträger einwirken können (Deutschländer/ Hermann), beantworten das Zusammenspiel von Macht und Wissen am Hof sicherlich nicht erschöpfend. Verdienst des Bandes bleibt aber, künftigen Studien zu Hof, Macht und Expertentum durch die präzise Terminologie und diachrone Perspektive den Weg zu ebnen.

Anmerkungen:
1 Frank Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis. Die Utopie vom maßgeschneiderten Wissen in den Kulturen des 12. bis 16. Jahrhunderts, in: Björn Reich / Frank Rexroth / Matthias Roick (Hrsg.), Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne (HZ, Beiheft Neue Folge 57), München 2012, S. 12–44, hier S. 22.
2 Rexroth, Systemvertrauen und Expertenskepsis, S. 20.
3 Johannes Fried, In den Netzen der Wissensgesellschaft. Das Beispiel des mittelalterlichen Königs- und Fürstenhofes, in: Ders. / Thomas Kailer (Hrsg.), Wissenskulturen. Beiträge zu einem forschungsstrategischen Konzept, Berlin 2003, S. 141–193, hier S. 165.
4 Vgl. etwa Maurice A. Pomerantz / Evelyn Birge Vitz (Hrsg.), In the Presence of Power. Court and Performance in the Pre-Modern Middle East, New York 2017; Stephan Conermann / Anna Kollatz (Hrsg.), Macht bei Hofe. Narrative Darstellungen in ausgewählten Quellen. Ein interdisziplinärer Reader (Narratio Aliena 11), Berlin 2020 (im Druck).

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